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Title
Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann


Author(s)
Bösch, Frank
Published
München 2019: C.H. Beck Verlag
Extent
512 S., 20 SW-Abb.
Price
€ 28,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Anselm Doering-Manteuffel, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Das Jahr 1979 liegt 40 Jahre zurück, die „Welt von heute“ feiert ihren 40. Geburtstag. Das passt gut in die Medienlandschaft unserer Tage. Es zieht die Aufmerksamkeit derer auf sich, die im Gegenwartsbezug des Tagesgeschehens die Vergangenheit nicht kennen und von der Zukunft keine Vorstellung haben. Frank Bösch bedient den Geburtstag perfekt, aber er sagt uns nicht, was die „Welt von heute“ eigentlich ist, sodass wir auch nicht so richtig wissen können, wann sie begann. Als kritische Historiker/innen würden wir vermutlich annehmen, dass sie nicht im biblischen Sinne in sieben Tagen erschaffen wurde und dass sie gewiss nicht in einem bestimmten Jahr entstand. Man kann die Geschichte nicht mit dem Nagel eines Jahres an die Wand hämmern, um sie zu fixieren. Selbst in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte bleibt es nicht aus, dass man das eine oder auch ein zweites Jahrzehnt ausleuchten muss, um die markanten Ereigniskomplexe in der Vorgeschichte der Gegenwart zu erkennen.

1973 zerfiel das Währungssystem von Bretton Woods, das mit dem US-Dollar als Leitwährung den internationalen Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit getragen hatte. Die Ölpreiskrise desselben Jahres stand damit in Zusammenhang, aber sie war ebenso eine Reaktion auf die wachsenden Spannungen im Nahen Osten nach dem israelisch-arabischen Sechstagekrieg 1967. Im Jahr 1973 begann auch die letzte Konferenz der Entspannungspolitik, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), deren Schlussakte von Helsinki 1975 dazu beitrug, dass – zusammen mit der Energiekrise – den Ostblockstaaten das Überleben schwerer wurde. Als Ronald Reagan 1983 die Strategic Defense Initiative gegen die Sowjetunion ausrief und drei Jahre später der Reaktor von Tschernobyl explodierte, begannen im Osten die Lichter zu flackern, bevor sie 1989/91 erloschen. Mitte der 1990er-Jahre wurde der qualitative Sprung in die Globalisierung spürbar, der Sprung aus der vergehenden Wirklichkeit des mechanischen und analogen Zeitalters nationaler Industriegesellschaften in die neue Wirklichkeit des digitalen Zeitalters global agierender Industriesysteme. Die Verlierer der Digitalisierung, die sich heute als Opfer von „Globalisierung“ fühlen, wurden seit 2015 zum Problem, indem sie die Migration bekämpfen und im Rechtspopulismus die „Welt von gestern“ beschwören. Wann also begann die „Welt von heute“?

Frank Bösch hat ein sehr gutes Buch geschrieben, informativ, anregend, reizvoll komponiert. Eine Gabe zum 40. Geburtstag des Jahres 1979 bleibt es allemal, selbst wenn es, mal stärker mal schwächer, die selbstgewählte Fixierung gar nicht durchzuhalten vermag. Böschs „1979“ fließt mit dem Strom der Zeit und bietet eine instruktive Interpretation von heterogenen Daten und Fakten eines bestimmten Jahres, wie sie üblicherweise in Keesings Archiv der Gegenwart aufgelistet sind.

Bösch beginnt mit der Revolution im Iran (Kap. 1) und dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in Polen (Kap. 2). Damit ist die religions-ideologische Grundierung der kommenden Jahrzehnte umschrieben, welche die politik-ideologische Grundierung des Kalten Krieges allmählich ablöste. Dieser Aspekt wird allerdings nicht systematisch weiterverfolgt, sondern mit verwandten Ereignisfeldern in Beziehung gebracht. Die tiefenscharfe Ausleuchtung des Machtkampfs der Ideologien taucht dann in Kapitel 6 über den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan wieder auf. Zuvor wird die Revolution in Nicaragua in den Blick gerückt (Kap. 3), die ja viel Solidarität in Westeuropa hervorbrachte und auch von der DDR unterstützt wurde, bevor 1990 die Sandinisten unter Ortega abgewählt wurden. Unvergessen bleiben die Kohorten westlicher Kaffeepflücker im „anti-imperialistischen Kampf“ (S. 125f.) und ihr Produkt, der „Solidaritäts-Kaffee“ im „Dritte Welt-Laden“ nebenan mit seinem unverwechselbaren Geschmack. Leider gibt es ihn nicht mehr, sonst könnte man zum 40. Geburtstag des Jahres 1979 nochmal eine Kanne davon aufbrühen, um den smell jener Zeit in westdeutschen Wohngemeinschaften in Erinnerung zu rufen. Von Nicaragua geht der Blick nach China (Kap. 4) mit einer fast noch zu milden Schilderung des Verschmelzens von Wirtschaftsinteressen und Menschenrechtsverletzungen. Das Massaker auf dem Tiananmen-Platz vom Juni 1989, zehn Jahre später, wird hier mit einbezogen. Dann kommen die Flüchtlinge aus Vietnam, die Boat People (Kap. 5), die nach dem Sieg des kommunistischen Nordens seit 1975 aus dem vom Krieg verwüsteten Land flohen. Für die Westdeutschen war das die Geschichte der Cap Anamur, jenes privat finanzierten Schiffes, dessen Betreiber Flüchtlinge aus dem Meer retteten, sie in die Bundesrepublik ausfliegen ließen und darüber, in Verbindung mit dem Zustrom von Vietnamesen aus der DDR, eine giftige Debatte über Öffnung oder Abschottung gegen Flüchtlinge in Gang brachten. Hier begann der Streit um das Verständnis von Asyl, denn der Art. 16 (2) GG sagte – vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus – aus, dass „politisch Verfolgte“ Asylrecht genießen. Zwischen den Bestimmungsmerkmalen „Flüchtling“, „politisch verfolgt“, „Asyl“ und „Migration“ war in der offenen Gesellschaft der Bundesrepublik eine Unterscheidung nur schwer zu treffen und die Frage, ob Deutschland ein „Einwanderungsland“ sei, begann zum Dauerthema zu werden.

Nach diesem Überblick auf die internationale Konstellation mit Nicaragua, China und Vietnam folgt das Kapitel 6 über den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan – ebenfalls ein Thema der internationalen Geschichte. Dann kommt die Geschichte der Ökologie, die – ein bisschen schräg – mit dem Kapitel 7 über „Thatchers Wahl und die Gründung der Grünen“ eingeleitet wird. Der Untertitel erklärt das Erkenntnisziel: „Neoliberalismus und Ökologie“. Spätestens von hier an lässt sich die Fixierung auf das Jahr 1979 nicht mehr aufrechterhalten. Bösch spricht über Thatcher (und Reagan) mit dem programmatischen Stilwechsel weg von der Konkurrenz gleichberechtigter Akteure in der Wirtschaft hin zum Wettbewerb, in dem nur einer gewinnen kann – der Stilwechsel vom Denken in den Kategorien des (nationalen) Konsenses zur Rivalität auf den globalen Märkten. Von der Mont Pèlerin Society seit 1947 bis zur Öffnung der Märkte seit den 1980er- und 1990er-Jahren reicht der Blick, die Entstehungsgeschichte der GRÜNEN mit ihrem Slogan „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ wird in die Geschichte der 1970er-Jahre eingebettet. Dann heißt es: „Das Aufkommen des Neoliberalismus und der Öko-Bewegung war eng mit der Erfahrung der Globalisierung verbunden“ (S. 301), auch wenn im Geburtsjahr der „Welt von heute“ von einer „Erfahrung“ der Globalisierung noch gar nicht die Rede sein konnte.

Dann kommt das Kapitel 8 über „Die zweite Ölkrise“, das mit der Ölkrise von 1973 beginnt (S. 307). Hier geht es um die Verschiebung der Koordinaten des Kalten Krieges infolge der Energiekrise, um den Zwang zum Energiesparen mit der Einführung der Sommerzeit und der Verbrauchsetiketten an elektrischen Haushaltsgeräten, es geht um die Havarien von Öltankern als ökologische Katastrophe. Das Kapitel endet mit der Feststellung, dass es in den 1980er-Jahren zu einer neuen Ölschwemme kam. Bösch macht auf die eminente Bedeutung aufmerksam, wie sich die Realität von „Öl“ und „Atom“ im wandelnden Energiesektor ausnahm, aber er verzichtet darauf, dies zum Konsumverhalten westlicher Gesellschaften und zum immer weiter ansteigenden Energieverbrauch in der Industrie in Beziehung zu setzen. Dadurch bleibt dieser Zusammenhang als Herausforderung an Politik und Gesellschaft in der „Welt von heute“ zu sehr im Schatten. Kapitel 9 widmet sich dem „AKW-Unfall bei Harrisburg“ vom März 1979 und reicht bis Tschernobyl (1986) und den deutschen Debatten über den Atomausstieg.

Den Schluss bildet das Kapitel 10 über die „Fernsehserie Holocaust“ und die „neue Erinnerungskultur“, bevor im Epilog systematisch erläutert wird, in wie hohem Maß die „hier untersuchten Umbrüche“, die „aus Krisenkonstellationen entstanden“, im Bewusstsein der Zeitgenossen wie auch der Geburtstagsgäste im Jahr 2019 medial vermittelt waren. Das galt nicht nur für den Welterfolg des Fernsehfilms „Holocaust“ (der wohl nicht aus einer „Krisenkonstellation“ entstand), sondern insbesondere für die Wahrnehmung von Umweltkatastrophen mit dem berühmten, immer gleichen Bild von ölverschmutzten, toten Wasservögeln am Strand, von Flüchtlingen in Seenot und ihren Rettern, von den Bildern des Tschernobyl-Reaktors, von Khomeini, Papst Johannes Paul II. und dem Papa-Mobil. Dass die Globalisierung sich bildlich nicht leicht medial vermitteln lässt, sondern im Guten wie im Schlechten konkret erfahren werden muss, gehört mit in die Entstehungsgeschichte der „Welt von heute“. Vielleicht erzeugt sie gerade deshalb viel mehr Angst, Argwohn und Abscheu als nötig wäre, so viel Hass auf Fremde, die von „irgendwoher“ kommen, weil Globalisierung als Herausforderung der Menschen im Hier und Heute abstrakt bleibt.

Das ist ein lehrreiches Buch, gut recherchiert, die einzelnen Kapitel sind sorgfältig in die Forschungsdiskussion eingebettet. Dass der Rezensent skeptisch ist gegenüber jeder Form von Dekadologie und deren historischen Erklärungswert bezweifelt, braucht Frank Bösch nicht zu stören. Er hatte ein anderes Ziel. Seine Leserschaft wird ihm für die reichhaltige Zusammenschau so vieler Daten und Fakten und die Erklärung so manchen scheinbar zusammenhangslosen Zusammenhangs dankbar sein.

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